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Die Freiheit nutzen – Mitbestimmung in der Vorschule

Ein Besuch im „Alen Tramschapp“ in Luxemburg-Stadt

Partizipation im Unterricht von klein auf – geht das? Braucht man für Diskussionen, Aushandlungsund Entscheidungsprozesse nicht eine bestimmte Reife, über die Dreijährige noch gar nicht verfügen? Das mateneen-Team hat sich auf Limpertsberg ein Bild von der Arbeit mit Vorschulkindern gemacht und festgestellt: das geht sehr wohl!
„Sprechende Wände“: Kinder und Eltern sehen hier, was in letzter Zeit passiert ist und was in den kommenden Wochen auf dem Programm steht.

Dienstagmorgen, kurz vor 8. Viele Kinder spielen im Hof, Eltern kommen mit ihren Sprösslingen herein, bleiben stehen, helfen beim Schuhe ausziehen, Lehrerinnen bereiten den Tag in den Klassensälen vor, die „Baum“, „Schmetterling“, „Sonne“ oder „Blume“ heißen. „Die Namen wurden von den Architekten vorgegeben“, bemerkt Maryse Pauly, die uns empfängt. Dass jede Klasse einen Namen hat, erleichtere die Identifikation mit der Gruppe.

Orte des Austauschs

Wir stehen im Eingangsbereich im Erdgeschoss. Von hier aus gelangt man in einige Klassenräume oder durch Gänge und Treppen in weitere Klassen. „Das Gebäude wurde so konzipiert, dass sich zwischen zwei Klassen immer ein Raum befindet, den sich beide Klassen teilen. Das erleichtert die Kommunikation zwischen den Kindern und dem Lehrpersonal.“ Der Bereich, in dem wir uns befinden, wird auch als so ein Ort des Austausches verstanden. „Der Eingang ist ein wichtiger Ort in unserer Schule. Jeder, Kinder und Eltern, soll sich willkommen fühlen“, sagt die Grundschullehrerin. Die Girlande mit gebastelten Fahnen aller in der Schule vertretenen Nationalitäten ist Teil dieser Offenheitskultur. Es sei wichtig, dass jeder merkt, dass er dazugehört. Dazu müsse man den Bezug zum Herkunftsland der Schüler*innen einerseits – die Mehrheit der Kinder haben nicht die luxemburgische Staatsangehörigkeit – und zu Luxemburg andererseits herstellen können. Das geschieht unter anderem auch durch einen niedrigen Tisch, der sich ebenfalls im Eingangsbereich befindet. Hier werden die Jahreszeit und die entsprechenden in Luxemburg gefeierten Feste visualisiert. Der Jahresrhythmus wird so für jeden deutlich, der die Schule betritt.

Eltern miteinbeziehen

Einige Eltern bleiben stehen, sprechen mit Frau Pauly. „Das Einbeziehen der Eltern ist integraler Bestandteil unseres Konzeptes“, erläutert diese kurz danach. Es mache einen großen Unterschied, ob Eltern ihre Kinder bis in die Klassenräume begleiten dürfen oder ob sie die Kinder vor der Schule abgeben müssen. Ihr rund 20-köpfiges Team hätte sich dazu entschieden, mit den Eltern zu arbeiten. Das sieht dann zum Beispiel so aus, dass diese den Kindern Geschichten in ihrer Muttersprache vorlesen. An jenem Morgen, so erfahren wir später, war es eine Erzählung auf Tschechisch. Die Mutter las, ihr Sohn übersetzte.

Zum Kontakt mit den Eltern gehören auch die „sprechenden Wände“, die vor jeder Klasse anhand von Bildern, Fotos und Kalendern den Eltern zeigen, was gerade auf dem Programm steht oder vor kurzem stand. Anderenorts finden wir Fotos der Familien vor. „Die Fotos sind eine Art Anker und helfen den Dreijährigen, sich zurecht zu finden“, erklärt Maryse Pauly.

Projektarbeit mit Vier- und Fünfjährigen

Wir betreten die „Maulwurf“-Klasse. Woran die Kinder im Moment arbeiten, wird sofort klar: Ein Großteil des Raumes ist mit Mauerwänden aus Karton und mit Zinnen belegt – wir befinden uns in einer Burg. „Ich versuche jedes Jahr ein Projekt durchzuführen. Dieses Jahr lautet das Thema Ritter“, erklärt Carole Didier und führt uns zum Bücherstand, wo neben „Maulwurf-Literatur“ viele Geschichten und Sachbücher rund ums Projektthema stehen. „Die Kinder entscheiden, mit welchem Thema sie sich beschäftigen wollen. Oft bringt ein Kind ein Buch mit, das weitere Kinder interessiert. Meine Rolle ist es nachzufragen und Input zu geben. Nach vielen Gesprächen schält sich dann ein Thema heraus. Das braucht Zeit und viel Austausch. Außerdem weiß man nie, was dabei herauskommt“, erklärt Frau Didier und deutet auf den Garten, den man vom Klassenraum aus betreten kann. Eigentlich hatte sie sich nämlich vorgestellt, im Frühjahr und im Sommer mit den Kindern zum Thema Gärtnern zu arbeiten. Das wollten die Kinder jedoch nicht. „Oft ist es nicht das Thema, das ich mir vorgenommen habe. Aber dann muss man halt zurückstecken.“

Der Austausch über das laufende Projekt findet jeden Morgen während des Morgenkreises statt. Zu Beginn eines Projektes werden dort alle Gedanken gesammelt. Auf großen Papierbögen wird festgehalten, was den Kindern zum Thema einfällt. Dabei wird nicht nur aufgeschrieben, sondern vor allem gemalt, so dass die Vier-bis Fünfjährigen auch verstehen, über welche Elemente gesprochen wurde.

Im weiteren Verlauf des Projektes ist der Morgenkreis der Moment, in dem geprüft wird, wie weit man schon gekommen ist und welche weiteren Schritte geplant werden. Manchmal wird abgestimmt. Die meisten Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Man bemerke immer wieder, dass es den Kindern wichtig ist, dass jeder sich mit einer Entscheidung wohl fühlt. Zum Abschluss jedes Projektes werden die Eltern eingeladen. „Die Kinder fiebern diesem Moment wochenlang entgegen. Sie wollen zeigen, was sie alles geleistet haben.“ Davor steht noch ein Besuch auf einer echten Burg an, wo die jungen Ritter und Burgfräulein (die Rollen wurden nicht geschlechterspezifisch verteilt) „Prüfungen“ bestehen müssen. Trotz des Aufwandes fühle sich die Projektarbeit jedes Mal gut an, sagt Carole Didier. „Du hast die Freiheit zu tun, was Du willst. Du musst sie nur nutzen!“, fügt sie hinzu und begutachtet einen selbstgebastelten Morgenstern, den ihr ein Junge (in voller Rüstung) stolz zeigt.

Selbst bestimmen, wann man isst

Ein Stockwerk höher treffen wir auf zwei Lehrerinnen, deren Kinder sich gerade im Übergang zwischen „Freies Spiel“ und „Restaurant“ befinden. „Wir haben fixe Uhrzeiten fürs Essen abgeschafft“, erklären sie. „Viele Kinder hatten entweder noch keinen oder schon eher Hunger. Zudem brauchen einige länger und andere sind nach wenigen Minuten fertig. Jetzt ist 45 Minuten lang das Restaurant offen und die Kinder entscheiden selbst, wann sie essen.“ Damit würde ebenfalls das Gespür für den eigenen Körper trainiert: Ich esse, wenn ich Hunger habe. Beziehungsweise, wenn ich lieber spiele, muss ich eben schneller essen.

Aufgabenverteilung: Jedes Kind (hier mit einem Tier dargestellt) hat eine Aufgabe. Nach einem Tag oder einer Woche wird gewechselt. So lernen die Kinder Verantwortung für die Klassengemeinschaft zu übernehmen.

Selbstbestimmung in einem geordneten Rahmen, Freiheit und Sicherheit, das sind die beiden Pole, zwischen denen das hier vorgefundene Konzept, wie in vielen anderen Vorschulen auch, verankert ist. Zum Faktor Sicherheit gehören die Rituale, die im Cycle 1, also beim ersten Kontakt der Kinder mit dem schulischen Umfeld, eine zentrale Rolle spielen. Im Alen Tramschapp gibt es in jeder Klasse einen Bereich, der für den Morgenkreis und für andere Zusammenkünfte vorgesehen ist. Hier hängen meist auch die Klassenregeln und die Rollenverteilung für den jeweiligen Tag oder die jeweilige Woche. Wer ist dran mit Stühle rücken, Pflanzen gießen und Tische wischen? So übernimmt jeder reihum Verantwortung für die Klassengemeinschaft und erfährt dadurch Selbstwirksamkeit. Dass jeder seinen Teil zur Gemeinschaft beitragen soll und kann, ist die Botschaft, die Kinder im Vorschulalter verstehen sollen.

Ein Morgenkreis mit Dreijährigen

Die letzte Etappe ist der Besuch der Précoce-Klasse, in der Maryse Pauly normalerweise unterrichtet. Die Dreijährigen räumen gerade auf. Gleichzeitig singen die Kolleginnen, mit denen sich Frau Pauly die Klasse teilt, ein Lied. Die Kinder singen mehr oder weniger beschwingt mit. Musik spielt eine wichtige Rolle bei allen Tätigkeiten. Dann geht’s in einer Reihe hinter dem Zugführer (eine Rolle, die jede Woche jemand anders übernimmt) zur Toilette und zum Händewaschen. Zurück im Klassenraum setzen sich alle in den Morgenkreis. Die Kinder begrüßen einander – wieder mit einem Lied – und dem entsprechenden „Hallo“ in ihrer Muttersprache. Danach wird jedes Kind einzeln aufgerufen. Ein Junge und ein Mädchen melden sich freiwillig und fragen – singend – ob dieser Junge oder jenes Mädchen da sei. Der oder die Gerufene antwortet dann, ebenfalls singend. Das ist eine außergewöhnliche Leistung. Es gehört doch einiges dazu, sich vor die Klasse zu stellen und zu singen. „Der Junge, der eben vorsingt, hat sich am Anfang des Jahres überhaupt nicht getraut. Jetzt macht er das selbstverständlich. Das ist eine sehr schöne Entwicklung,“, bemerkt Maryse Pauly. Jedes Mal begrüßt die Lehrerin das Kind mit dem Ausdruck „Schön, dass Du da bist!“ Die Kinder, die fehlen, werden ebenfalls gerufen und es wird erklärt, warum sie nicht da sein können. „Es ist ihnen wichtig zu wissen, dass die Klassenkameraden nach ihnen fragen.“ Sich selbst kennenlernen, spüren, dass man „zählt“, ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, dies sind ebenfalls fundamentale Ansprüche an die Vorschule, die im Alen Tramschapp geübt und gepflegt werden.

Morgenkreis: Hier begrüßen sich die Kinder, diskutieren das Programm mit der Lehrerin und treffen gemeinsam Entscheidungen.

Im Morgenkreis sind sie mittlerweile beim Thema Essen angekommen. Es ist nämlich „Kochtag“. Die Kinder dürfen montags entscheiden, was sie kochen wollen und bringen auch die Zutaten mit. So geht es denn, wieder im Zug, Richtung Küche. Es gibt Suppe mit lila Möhren und als Dessert Bananen, das haben sich die Kinder gewünscht. Dass die Bananen mit Teig und Schokolade ummantelt sind, war der Wunsch der Lehrerinnen. Schade, dass wir nicht zum Essen bleiben können.





Michèle Schilt

Stellvertretende Direktorin des Zentrum fir politesch Bildung. Michèle Schilt ist Sekundarschullehrerin im Fach Geschichte. Sie beschäftigt sich vor allem mit demokratischer Schulkultur und Workshopentwicklung für die formale und non formale politische Bildung.

Autor*in(nen):

Michèle Schilt (2019)

Titel:

Die Freiheit nutzen – Mitbestimmung in der Vorschule

Erschienen in Ausgabe:

03 / 2019 - Partizipation im Unterricht, S. 16-19.

Stichwörter:
Zitiervorschlag:
Michèle Schilt (2019) : Die Freiheit nutzen – Mitbestimmung in der Vorschule, in: mateneen 03 / 2019 - Partizipation im Unterricht , S. 16-19. Online unter: https://doi.org/10.25353/ubtr-made-58fe-7c8b