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Soziales Engagement politisch denken! Sozialpraktika als politische Lerngelegenheit
Neben den bekannten Berufspraktika bieten immer mehr Schulen ihren Schüler*innen die Möglichkeit, im Rahmen eines sogenannten Sozialpraktikums Einblicke in pflegerische, soziale oder medizinische Arbeitsfelder zu erhalten. Die Jugendlichen machen dabei Erfahrungen, die vielfältige Möglichkeiten für demokratisches Lernen bieten.
Schulpraktika finden häufig in Verwaltungs-, Wirtschafts-, Handwerks- oder Dienstleistungsbetrieben statt. Sozialpraktika bieten dagegen die Chance, verschiedene soziale Einrichtungen wie beispielsweise Kindergärten, Wohneinrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, Zeitungsredaktionen von Obdachlosen oder Altenpflegeheime kennenzulernen. Schüler*innen können so nicht nur gesellschaftliche Vielfalt erfahren, sondern in der Auseinandersetzung mit Fragen des Sozialstaats oder sozialen Engagements und im Dialog mit den Akteur*innen vor Ort ihre sozialen Kompetenzen und politische Handlungsfähigkeit stärken. Die Erfahrungen, die die Schüler*innen im Rahmen der Sozialpraktika sammeln, lassen sich zunächst als „soziales Lernen“ einordnen, das häufig auf informellem Weg passiert. Damit diese Erfahrungen zu politischem Lernen erweitert werden, bedarf es einer entsprechenden Auswertung und reflexiver Angebote.
Demokratisches Lernen in der Auswertung von Sozialpraktika
Für eine gelingende Auswertung der Sozialpraktika und einen Transfer der Erfahrungen auf die Ebene gesellschaftspolitischer Fragestellungen sind verschiedene Faktoren zu beachten, da die Sozialerfahrungen der Schüler*innen nicht automatisch zu politischem Lernen führen.1 In einigen Fällen kann die Möglichkeit genutzt werden, externe Partner*innen in die Reflexion miteinzubeziehen. Doch auch, wenn Lehrkräfte die Reflexion der Erfahrungen aus den Sozialpraktika in den Fachunterricht einbetten, bietet sich die Chance, Mitbestimmungsprozesse und Zusammenhänge (sozial-)politischer Strukturen zu durchdringen sowie eigene Handlungsoptionen zu entwickeln. Damit das gelingt, ist darauf zu achten, dass die Reflexion trotz Anbindung an bspw. den Politikunterricht multiperspektivisch und ergebnisoffen an den Erfahrungen orientiert und nicht bspw. an Pflichtfeldern des Curriculums erfolgt.
Von der Theorie zur Praxis: Beispiel Pflegenotstand
Wie eine solche Reflexion in der Praxis aussehen kann, wird im Folgenden am Beispiel eines Praktikums im Altenheim skizziert. Oftmals machen Schüler*innen hier die Erfahrung, dass das Personal in pflegerischen Berufen nicht genug Zeit für Patient*innen oder Klient*innen hat. Im Alltag führt dies beispielsweise zu einer schnelleren, hektischen und stress-fördernden Arbeitsweise oder verkürzten Pausenzeiten. Mit dem Praxismaterial “Mein Sozialprojekt-Profil“ vergegenwärtigen sich die ehemaligen Praktikant*innen ihre Eindrücke zur Praktikumsstelle, die dortigen Arbeitsbedingungen und ihre persönlichen Erfahrungen. Anschließend bekommen sie Zeit, sich in Kleingruppen auszutauschen, um so einen Einblick in unterschiedliche Einrichtungen zu bekommen.
Erste kritische Punkte, die hierbei ggf. sichtbar werden, können die Jugendlichen konkretisieren und um weitere ergänzen. Bei dieser angeleiteten „Analyse der […] zugrunde liegenden politischen Konflikte“ (Wohnig 2015) stoßen sie vermutlich relativ schnell auf das Fehlen von Pflegekräften, das unter dem Stichwort des sogenannten „Pflegenotstands“ aus zahlreichen strukturellen politischen und wirtschaftlichen Faktoren besteht – z.B. den gesetzlichen Vorgaben auf der einen sowie Privatisierung und Leistungsdruck pflegerischer Leistungen auf der anderen Seite. Nachdem die Jugendlichen ihre individuellen Erfahrungen auf gesamtgesellschaftliche, strukturelle Probleme bezogen haben, können sie in einem weiteren Schritt ihre eigenen Wunschvorstellungen und Visionen sowie mögliche Projekte entwickeln.
Wenn sie sich nun für eine Verbesserung der von ihnen erkannten Situation einsetzen wollen, können sie sich entweder ehrenamtlich sozial engagieren, indem sie pflegebedürftigen Menschen beispielsweise durch Zuhören oder Vorlesen die Zeit schenken, die das hauptamtliche Personal durch Zeitdruck nicht mehr aufwenden kann. Eine andere Option finden sie auf politischer Ebene, indem sie sich beispielsweise durch eine Petition oder Gespräche mit Politiker*innen bzw. anderen Expert*innen für eine strukturelle Verbesserung einsetzen. Durch das Aufzeigen beider Möglichkeiten erkennen die Jugendlichen, wie wichtig soziales Engagement für unsere demokratische, solidarische Gesellschaft und wie erfüllend es für einzelne Menschen sein kann. Sie lernen aber auch, dass nicht alle Probleme im Sinne eines „aktivierenden Sozialstaats“ durch individuelles Engagement gelöst werden können, sondern auch strukturelle Maßnahmen notwendig sind.
Nachdem die Jugendlichen während der Praktika meist in getrennten Einrichtungen waren, kann die gemeinsame Diskussion, Reflexion und Projektarbeit ein wichtiger Beitrag für das Erlernen demokratischer Prozesse wie Konsensfindung oder begründete Auseinandersetzungen sowie zur Stärkung der Klassengemeinschaft sein.
Fazit
Die Auswertung von Sozialpraktika aus einer gesellschaftskritischen Perspektive bietet nach unseren Erfahrungen sowie der benannten empirischen Forschung gute Möglichkeiten, um auf Basis eigener Erfahrungen Reflexionsprozesse und Lernanlässe für demokratisches Lernen und politische Bildung anzustoßen. Damit kann Schule zu einem Ort werden, an dem nicht nur Wissen vermittelt, sondern soziales Engagement gefördert wird und somit als Ausgangspunkt für reales politisches Handeln wirken kann. Dass dies auch mit den hier skizzierten Bedingungen und Methoden keine automatische Wenn-Dann-Formel ist, versteht sich von selbst.
CHECKLISTE
Soziales Engagement politisch denken
Ziel
Die Jugendlichen können…
- ihre Erfahrungen aus dem Sozialpraktikum reflektieren.
- die Erfahrungen aus ihrem sozialen Engagement in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge einordnen.
- Gespräche mit Expert*innen und (politischen) Entscheidungsträger*innen über verschiedene Fragen führen.
- kritische bzw. kontroverse Themen, Widerstände und Herausforderungen im Zusammenhang mit sozialem Engagement erfassen.
Zielgruppe
(Kinder oder) Jugendliche, die ein Sozialpraktikum bzw. ein Praktikum in einer sozialen Einrichtung absolviert haben
Dauer
Je nach zeitlichem Budget, kann das Reflexionsseminar
- verkürzt in 3 Doppelstunden
- oder intensiv in 1-2 Tagen durchgeführt werden.
Vorgehen (auch nach Vorbild der Zukunftswerkstatt)
- Reflexion der gemachten Eindrücke
- Inbezugsetzung zu gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen sowie Formulierung von Kritik an denselbigen
- Formulieren eigener Wünsche und Projekte zur Umsetzung
- Diskussion von Handlungsoptionen, auch mit Expert*innen und/oder Entscheidungsträger*innen
Zum Weiterlesen:
Eine detaillierte Sammlung von Strategien und Methoden, die zur gesellschaftskritischen Auswertung von Sozialpraktika im Schulunterricht eingesetzt werden können, finden sich in einem Handbuch, das 2022 u.a. auf Basis des hier skizzierten Projekts von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Intensive Einblicke in dessen Begleitforschung bieten u.a. Alexander Wohnig et al. 2015 in „Soziales Engagement politisch denken“.
1 Vgl. Wohnig, Alexander (2017): Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Analyse von Praxisbeispielen politischer Bildung. Wiesbaden.
Alexander Mack
war bis Ende 2021 Referent für politische Jugendbildung im Haus am Maiberg in Heppenheim.
Hanne Kleinemas
ist Referentin für politische Jugendbildung im Haus am Maiberg in Heppenheim.
Autor*in(nen):
Alexander Mack / Hanne Kleinemas (2022)
Titel:
Soziales Engagement politisch denken! Sozialpraktika als politische Lerngelegenheit
Erschienen in Ausgabe:
7 / 2022 - Schule öffnen und vernetzen, S. 34-37.