Artikel
Unterricht partizipativ gestalten
Fachunterricht ist der zentrale Erfahrungsraum im Sozialisationsumfeld Schule. Er prägt schon allein aufgrund seines hohen zeitlichen Anteils im Tagesverlauf und der grundlegenden Funktion von Schule Handeln und Wahrnehmung von Lehrpersonen und Lernenden. Umso wichtiger ist es, ihn in die Gestaltung einer demokratischen Schulkultur einzubeziehen.
Eine von Partizipation geprägte Unterrichtskultur braucht mehr als nur eine punktuell ermöglichte Mitgestaltung. Vielmehr müssen unterschiedliche Elemente verbindlich verankert und sinnstiftend aufeinander bezogen werden. Unterricht wird zu einem Lernerlebnis, das Schüler*innen und Lehrkräfte (zunehmend) gemeinsam vorbereiten, entwickeln und durchführen und das dabei immer wieder Gelegenheiten zu einem bewussten Erleben von Demokratie schafft. Doch welche Chancen birgt ein auf diese Weise zu charakterisierender Unterricht? Welche Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich und welche Gelingensbedingungen lassen sich ausmachen?
Chancen einer partizipativen Unterrichtskultur
Auch wenn die Einführung von Schülerbeteiligung im Unterricht auf den ersten Blick Zeit zu kosten scheint, zeigen sich bereits auf den zweiten Blick deutliche Vorteile und Chancen für das fachliche wie demokratische Lernen: So schätzen Lernende als Mitglieder eines partizipativen Fachunterrichts die Lehrer-Schüler-Beziehung positiver ein. Gleichzeitig wird ihnen ein größeres Wohlbefinden in ihrer Schul- und Klassengemeinschaft, eine größere Motivation wie auch ein geringerer Grad an Belastung attestiert.1 Der Erziehungswissenschaftler John Hattie schlussfolgert unter anderem auf Grundlage der von ihm zusammengeführten Meta-Analysen außerdem die beträchtliche Bedeutung von Feedback für Lernprozesse und deren Ergebnisse. Auch die weitere Unterrichtsentwicklung kann von Feedback profitieren,2 die, betrachtet man Feedback als Baustein eines partizipativen Unterrichts, gemeinsam bestimmt und geplant werden sollte.
Aus diesen Ergebnissen lässt sich ableiten, dass im Fall einer wohlüberlegten Einführung einer partizipativen Unterrichtskultur das Potential zu langfristigen
Zeiteinsparung und einer Verbesserung der Unterrichtsqualität besteht. Zudem kann auf diese Weise das Maß an Unterrichtsstörungen und Disziplinschwierigkeiten verringert werden. Von besonderer Relevanz sind die Fähigkeiten, die Lernende in einem partizipativen Unterricht einüben und vertiefen können: Sie haben das Potential, einen wichtigen Beitrag zu einem lebenslangen Lernen zu leisten. Um diese Chancen erreichen zu können, ist es unbedingt notwendig, sich mit Gestaltungsmöglichkeiten einer partizipativen Unterrichtskultur auseinanderzusetzen.
Bausteine eines partizipativen Fachunterrichts
Partizipative Elemente, die sich für eine Weiterentwicklung des Fachunterrichts eignen, sind sowohl in ihrer Gestalt als auch in dem für die Verankerung notwendigen Zeitaufwand vielfältig. Demokratie kann sich, betrachtet man sie innerhalb der von Gerhard Himmelmann beschriebenen Dreiteilung in ihrer Dimension als Lebensform3, im täglichen Zusammenleben wiederfinden. Die Art und Weise, wie miteinander umgegangen wird, ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung für eine partizipative Unterrichtskultur: Ein bewusst demokratisches, reflektiertes Miteinander ermöglicht es, lässt aber auch den Anspruch entstehen, dass Demokratie im direkten Umfeld geund erlebt wird. Angesprochen wird die von Gerhard Himmelmann beschriebene Dreiteilung auch im Kontexteiner Pädagogik der Anerkennung4 , zu deren Vertretern Axel Honneth gehört. Bezugnehmend auf ihn besteht die These, dass es, um demokratisches Lernen im schulischen Kontext zu erreichen, unter anderem notwendig ist, einen wertschätzenden und achtenden Umgang im Unterricht zu erleben. Auf dieser Grundlage ist es wiederum möglich, der eigenen Person diese Gefühle entgegenzubringen, was als Voraussetzung für demokratisches Lernen fungiert.
Wird ein diese Aspekte berücksichtigender Umgang, der auch spezifische Bedürfnisse und Wünsche einschließt, bewusst in einem demokratischen Diskurs im Unterricht festgelegt, beginnt schon mit diesem Prozess die Verantwortungsübernahme jedes Einzelnen für gruppenintern ausgehandelte Entscheidungen. Gleichzeitig wird deutlich, dass es ein Patentrezept für den einen partizipativ gestalteten Unterricht nicht geben kann. Dies gilt sowohl für den gerade beschriebenen wie auch für andere Bausteine eines partizipativen Unterrichts, verdeutlicht aber auch den Mehrwert, den eine durch die Lerngruppe gestaltete Lernumgebung bietet.
Weiterhin beinhaltet ein dem Ziel der Partizipation verpflichteter Unterricht die unvermittelte Teilhabe an eben diesem und damit auch an der Entscheidung
darüber, was und auf welche Weise gelernt werden soll. Schüler*innen handeln hier als Expert*innen für den von ihnen bereits jahrelang besuchten Unterricht, über den sie ein großes Wissen erwerben konnten. Sie suchen, in Aufgabenteilung oder in Zusammenarbeit mit der Lehrkraft, Materialien und Methoden aus, bereiten sie vor und treffen Entscheidungen über die zur Auswahl stehenden fachlichen Inhalte. Möglich ist es auch, immer wieder einen weitestgehend eigenverantwortlichen Aneignungsprozess anzustreben, wie er beispielsweise in Form von Projektunterricht stattfinden kann.
Bereits ersichtlich wurde die Bedeutung, die Feedbackkultur im Rahmen eines partizipativen Unterrichts einnehmen kann. Lehrende und Lernende geben einander eine nach gemeinsam ausgehandelten Regeln gestaltete Rückmeldung. Hierfür ist es wichtig, dass eindeutige Absprachen beispielsweise über die Häufigkeit des Austauschs bestehen. Die Einzelnen üben dabei, sich und andere einzuschätzen und mit der Einordnung durch andere umzugehen.
Von großer Bedeutung ist außerdem, dass auch Bewertungsprozesse als Bestandteil eines partizipativen Unterrichts miteinbezogen werden. Schulische Beurteilungen können in einem nicht zu unterschätzenden Maße beeinflussen, wie Schüler*innen sich und ihre Fähigkeiten wahrnehmen. Ziele des Lernprozesses sollten im Vorhinein diskutiert werden, auch die Kriterien zur Bewertung von Ergebnissen lassen sich mit Lernenden zusammen entwickeln. Des Weiteren sind Bewertungen möglich, die den Fokus auf den Prozess des Lernens setzen. Portfolios bieten einen für eigenständige Schwerpunktsetzungen offenen Rahmen, in welchem die Lernenden ihre Produkte, erlebte Herausforderungen und erreichte wie bisher unerreichte Ziele reflektieren. Mit einer Teilnahme an Bewertungsprozessen können Schüler*innen auch demokratische Fähigkeiten einüben, die durch eine entsprechend gestaltete Aufgabenkultur weiterentwickelt werden können: Werden Aufgaben situativ in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet, können diese zu einem partizipativen Unterricht beitragen. Sie sollten Schüler*innen dabei immer wieder dazu auffordern, demokratisches Handeln bewusst einzuüben.
Die beschriebenen Bausteine haben dabei das Potential, dass sich Schüler*innen tiefergehend mit Lerngegenständen auseinandersetzen. Eine partizipative Unterrichtskultur ermutigt die Lernenden zudem insgesamt, ihren Aneignungsprozess einzuschätzen und zu beurteilen. Dieses Wissen wiederum befähigt und berechtigt Schüler*innen dazu, an Fragen der Unterrichtsgestaltung mitzuwirken. Für eine erfolgreiche Verankerung sollten dabei einige Aspekte beachtet werden.
Gelingensbedingungen einer partizipativen Unterrichtskultur
Der Weg hin zu einer partizipativen Unterrichtskultur kann schon mit kleinen Schritten beginnen. Bedeutsam ist jedoch, dass man ihr zugehörige Bausteine auch als partizipative Elemente einführt und reflektiert. Auf diese Weise bieten sie immer wieder Anlass dazu, bestehende Vorstellungen zu Demokratie zu hinterfragen. Nicht nur aus diesem Grund ist es wichtig, sich regelmäßig mit der aktuellen partizipativen Unterrichtskultur inklusive ihrer bestehenden (rechtlichen) Grenzen auseinanderzusetzen: Wie eine Studie zeigt, schätzen Lehrende die Gelegenheiten zur Mitwirkung an unterrichtlichen Entscheidungsprozessen wesentlich höher ein als es Schüler*innen tun. Zudem wird die bisher erlebte Mitwirkung als größter der untersuchten Einflussfaktoren auf das Maß der weiteren schulischen Teilhabe beschrieben.5
Doch auch wenn Partizipation in der Schule Grenzen gesetzt sind, stellen Rahmenpläne und Schulgesetze zahlreiche Möglichkeiten bereit, die Lernenden an der Unterrichtsplanung und -gestaltung zu beteiligen. Besondere Unterstützung bei der Einführung eines partizipativen Fachunterrichts kann eine Schule bieten, die schon über Erfahrungen mit einer solchen Kultur beispielsweise auf Schulebene verfügt. Hilfreich ist es auch, wenn weitere Akteure den Aufbau einer auf diese Weise gestalteten Unterrichtskultur fördern möchten.
Eine durch Partizipation geprägte Lernumgebung stellt Schüler*innen Gestaltungsraum bereit, der zuvor in diesem Maß oft nicht wahrgenommen wird. Dabei wäre es ein Missverständnis, einen solchen Unterricht mit einem Autoritätsverlust oder Laissez-faire-Stil zu assoziieren. Vielmehr werden in einem geschützten und für Lernende prägenden Rahmen umfassende Erfahrungen mit Demokratie möglich, die einen großen Anteil an diszipliniertem und organisiertem Arbeiten verlangen und gegenseitigen Respekt fördern. Der Anspruch, den eine solche Lernumgebung an die Beteiligten stellt, ist damit hoch. Lehrende und Schüler* innen müssen sich zugestehen, dass eine solche Unterrichtskultur nicht in einem schnellen Verfahren eingeführt werden kann. Es braucht Übung, um eigene wie auch gruppenintern geteilte Interessen wahrzunehmen, zu verbalisieren und sie auch umzusetzen. Werden hierfür jedoch (zunehmend) Gelegenheiten geschaffen, profitieren alle Beteiligten davon, dass in einem so bedeutsamen und alltäglichen Erfahrungsraum für Schüler*innen und Lehrer*innen Demokratie erlebbar wird.
„Es hängt wirklich von den Lehrern ab.“
Schülerinterviews zur Partizipation im Unterricht
mateneen: Findet ihr, ihr werdet ausreichend im Schulalltag beteiligt?
Schüler: Das kommt ganz auf die Lehrer an. Manche sind da eher offen, andere nicht.
Schülerin: Es hängt wirklich von den Lehrern ab. Manche kommen den Schülern entgegen, anderen ist es egal und sie ziehen ihr Programm durch. Schüler: Also ich finde wirklich, dass die Direktion immer ein offenes Ohr hat, für alles was von einem Schüler kommt. Bei den Lehrern hängt es natürlich davon ab, welcher Lehrer es ist, ob er oder sie interessiert ist. Es ist wie bei den Schülern: Es gibt Lehrer, die motiviert sind, andere weniger. Das heißt, man muss sich schon überlegen, an wen man mit einer bestimmten Idee herantreten kann. Aber in der Direktion wird sicherlich zugehört; ob es durchgezogen wird oder nicht, muss man dann schauen.
Schüler: Ich bin im Conseil d’Éducation. Dort wurde nicht weniger auf mich gehört, nur weil ich Schüler bin. Das heißt, meine Stimme war genauso viel wert wie die eines Lehrers.
mateneen: Habt ihr die Möglichkeit, im Unterricht eure Meinung einzubringen und Feedback zu geben?
Schüler: Feedback wird bei uns praktisch nicht angewendet. Nur zum Beispiel bei Buchvorstellungen können wir Rückmeldungen geben, aber auch dabei kommt der Hauptteil vom Lehrer. Dass wir zur Arbeit der Klasse, einer Unterrichtsreihe, dem Lehrer oder uns selbst Feedback geben, kommt nie vor.
Schüler: Auch hier kommt es ganz auf die Lehrer an. Manche interessieren sich für uns, fragen nach unserer Meinung. Andere ziehen einfach ihren Unterricht durch und das war‘s. mateneen: Würdet ihr euch denn wünschen, dass ihr in dieser Hinsicht mehr eingebunden werdet?
Schüler: Eine stärkere Einbindung bei der Themenwahl würde ich mir sehr wünschen. Ich denke, so könnte der Unterricht auch wesentlich ansprechender aufgebaut werden.
Schülerin: Ich glaube, wenn die Lehrer die Schüler mehr einbeziehen und mitreden lassen würden, dann wären die Schüler auch allgemein mehr motiviert.
1 Vgl. Carina Kötters, Ralf Schmidt, Christine Ziegler (2001): Partizipation im Unterricht – Zur Differenz von Erfahrung und Ideal partizipativer Verhältnisse im Unterricht und deren Verarbeitung. In: Jeanette Böhme, Rolf-Torsten Kramer (Hg.): Partizipation in der Schule. Theoretische Perspektiven und empirische Analysen. Opladen: Leske + Budrich, S. 93-122.
2 Vgl. John Hattie (2015): Lernen sichtbar machen. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 206ff.
3 Vgl. Gerhard Himmelmann (2002): Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. In: Gotthard Breit, Siegfried Schiele (Hg.): Demokratie- Lernen als Aufgabe der politischen Bildung. Schwalbach/ Ts.: Wochenschau, S. 21-39.
4 Vgl. Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr (2013): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Ts.: Debus Pädagogik.
5 Vgl. Reinhardt Fatke, Helmut Schneider (2005): Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven. Bertelsmann Stiftung: Gütersloh.
Charlotte Keuler
lehrt und forscht an der Universität Trier zu demokratischer Schulentwicklung, politischer Bildung in der Großregion und im internationalen Vergleich. Sie ist u. a. Mitarbeiterin des transnationalen Projekts Sesam’GR.
Autor*in(nen):
Charlotte Keuler (2019)
Titel:
Unterricht partizipativ gestalten
Erschienen in Ausgabe:
03 / 2019 - Partizipation im Unterricht, S. 5-8.