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Beteiligung von Lernenden an der Unterrichtsgestaltung am Lycée Ermesinde

Partizipativer Unterricht, der nicht nur aus punktuell erlebter Teilnahme besteht, ist — wie Charlotte Keuler es im Leitartikel des vorliegenden Heftes formuliert — durch die Herausforderungen, vor die uns unsere globalisierte Welt stellt, in vielerlei Hinsicht unabdingbar geworden. Kommunikationsfähigkeit, interkulturelle Kompetenz, Wissensmanagement und andere oft zitierte „soft skills“ sind Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts.

Gerade in Zeiten des digitalen Wandels, in denen der Mensch sich vor allem durch seine soziale Interaktionsfähigkeit und Empathie vom Roboter abhebt, sollten diese Fähigkeiten alltäglich in der Interaktion mit anderen gefördert werden, auch und vor allem im geschützten Raum des Klassenzimmers.

Die Gestaltung eines partizipativen Unterrichts, der nicht auf einer Scheinpartizipation aufbaut, sondern Interaktionsfähigkeit fördert, muss immer den individuellen Bedürfnissen der Schüler* innen entsprechen und kann auf keinem allgemeingültigen Regelwerk aufbauen. Im Folgenden wird daher keine didaktische Gebrauchsanweisung für den partizipativen Unterricht dargelegt; es können lediglich einige persönliche Erfahrungen mit den entsprechenden Unterrichtselementen skizziert werden.

Formen partizipativen Unterrichts – Der élève engagé(e) als Assistent

Das Lycée Ermesinde verfügt über gesetzlich verankerte Rahmenbedingungen, die die Umsetzung partizipativen Unterrichts erleichtern.

Die aktive Rolle der Schüler*innen in der Unterrichtsgestaltung wird durch die Loslösung vom ministeriell vorgegebenen Lehrplan und durch das Konzept des élève engagé(e) gesichert. Die Grundidee des Konzepts des élève engagé(e) basiert auf der Annahme, dass der Anfang demokratischer Erziehung im Kennenlernen und in der Einschätzung der eigenen Bedürfnisse und Kompetenzen liegt. Sie sind für den Heranwachsenden die treibende Kraft, die es ihm ermöglichen, den für ihn erstrebenswertesten Platz in der Gesellschaft einzunehmen und den Weg dorthin selbstbestimmt zu planen und einzuschlagen. Mit einem konkreten Ziel vor Augen wird sinnstiftendes Lernen möglich. Der élève engagé(e) lernt die eigenen Stärken kennen und entwickelt sie weiter, indem er gemeinsam mit den Lehrer*innen den Unterricht gestaltet, eigene Ideen einbringt, Übungsphasen moderiert, kreatives Arbeitsmaterial entwirft, Selbstreflexion im Austausch mit den Lehrer*innen übt und damit seine Fach- und Sozialkompetenzen kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Assistenzaufgabe entspringt einer Art Vertrag, die der Schüler zu Beginn des Semesters in zwei Fächern, entsprechend seinen Vorlieben, mit den Lehrer*innen abschließt. Es handelt sich idealerweise um eine Abmachung, bei der die Erwartungen und Vorstellungen beider Parteien — Lehrer* in und Schüler*in — klar formuliert und verhandelt werden. Die Schaffung eines klar definierten Rahmens ist notwendig, um eine Scheinpartizipation zu verhindern. Denn nur innerhalb eines klar definierten Rahmens können Schüler*innen selbstbestimmt Ideen entwickeln und maßgeblich zur Unterrichtsgestaltung beitragen. Diese Rahmenbedingungen werden selbstverständlich nicht alleine durch die Lehrer*innen festgelegt, sondern resultieren idealerweise aus den Erwartungen beider Parteien.

Die Klassengemeinschaft ist in jedem Fach also zweigeteilt, in élèves engagé(e)s und in élèves non-engagé(e)s. Diese Aufteilung variiert von Unterrichtsfach zu Unterrichtsfach und ermöglicht somit die Partizipation eines jeden Klassenmitglieds, wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Wenngleich die élèves engagé(e)s ein größeres Mitbestimmungsrecht bei der Unterrichtsgestaltung haben, bedeutet dies jedoch nicht, dass die anderen Schüler*innen den Unterricht passiv über sich ergehen lassen. Im Gegenteil: Ihre Rolle besteht darin, mithilfe des von den élèves engagé(e)s präsentierten Angebots, ihr eigenes Wissen im Unterricht zu re-, de- oder erst zu konstruieren und darüber hinaus eine kritische Rolle einzunehmen, Reflexionen zu dem bereitgestellten Angebot anzustellen und den élèves engagé(e)s konstruktive Rückmeldungen zu geben. Sämtliche Schüler*innen werden in der Unterrichtseinheit also dazu angehalten, Verantwortung für sich selbst, aber auch für die Klassengemeinschaft zu übernehmen. Somit wird Demokratie im Unterricht gelebt.

„Lernen durch Lehren“ – Unabhängig vom institutionellen Rahmen fächerunabhängig einsetzbar

Wenngleich es in der Theorie sehr verlockend klingt, Schüler*innen sich gegenseitig unterrichten zu lassen, zeigt die Anfangsphase dieser Art des Unterrichts oft ernüchternde Ergebnisse: „schlechter“, „fehlerhafter“ Frontalunterricht in Form von Schülerreferaten, der die Referent*innen oftmals überfordert und für gähnende Langeweile bei den Mitschüler*innen sorgt.

Eine konstruktivistische Unterrichtsmethode, die einer solchen Scheinpartizipation entgegenwirkt, ist Lernen durch Lehren (LdL). Die unzähligen Erfahrungsberichte, die im Laufe der 30-jährigen Praktizierung der Methode verfasst wurden, bieten eine wertvolle Handreichung, die die praktische Umsetzung des Konzepts des élève engagé(e) im Lycée Ermesinde, aber auch die Umsetzung partizipativen Unterrichts in anderen Schulformen erleichtert. Die Idee, dass die Fähigkeit miteinander zu kommunizieren und die kollektive Wissenskonstruktion durch logisch kausale Verknüpfung von Information und Daten, nicht durch die bloße Aufnahme eines vom Lehrplan vorgegebenen und didaktisch sorgfältig aufbereiteten Stoffes gefördert werden kann, entspricht dem Konzept des élève engagé(e): „Wenn Schüler einen Lernstoffabschnitt selbstständig erschließen und ihren Mitschülern vorstellen, wenn sie ferner prüfen, ob die Informationen wirklich angekommen sind und wenn sie schließlich durch geeignete Übungen dafür sorgen, dass der neue Stoff verinnerlicht wird, dann entspricht dies idealtypisch der Methode „Lernen durch Lehren“.1 Wichtig ist in einer Anfangsphase, gemeinsam mit den Schüler*innen zu thematisieren, worum es bei dieser Unterrichtsform geht beziehungsweise nicht geht: Ziel sind nicht fehlerfreie Präsentationen, Collagen aus perfekt formulierten Sätzen von unterschiedlichen Websites, sondern eine aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Stoff, die durch Fragestellungen, Hypothesenbildungen und ständige Prüfung Letzterer zum Ausdruck kommt.

Diese Art von Wissenskonstruktion fordert zu Beginn kleinschrittigere Übungen, wie zum Beispiel die Übernahme von kurzen Moderationsphasen. In diesen Moderationsphasen müssen die élèves engagé(e)s besonders darauf achten, jeden zu Wort kommen zu lassen und die Mitschüler*innen immer wieder daran zu erinnern, Blickkontakt zu halten, wenn sie miteinander sprechen. Denn in der Anfangsphase ist es essentiell, weg von der lehrerzentrierten Arbeitsatmosphäre, eine gute Kommunikationsatmosphäre zwischen den Schüler* innen zu schaffen. Authentische Kommunikation ist die Voraussetzung für kollektive Wissenskonstruktion; indem die Schüler*innen lernen, sich gegenseitig zuzuhören, erkennen sie, dass auch Mitschüler*innen wertvolle Ressourcen sind. Die Übernahme von zunehmender Verantwortung steigert das Selbstbewusstsein und die Rückmeldungen der Lehrer* innen und der Schüler*innen fördert die Fähigkeit der Selbstreflexion.

In einem nächsten Schritt kann der zu behandelnde Unterrichtsstoff in Form von klar formulierten Arbeitsaufträgen und Handlungsanforderungen an die élèves engagé(e)s verteilt werden. Ihre Aufgabe besteht darin, sich den Stoff selbst zu erschließen und anschließend zu überlegen, wie er den Mitschüler*innen sinnvoll und ansprechend angeboten werden kann. Diese Vorbereitung erfolgt idealerweise im Unterricht, während die Mitschüler*innen mit anderem beschäftigt sind, denn die Unterstützung der Lehrer*innen ist in dieser völlig neuen Situation nötig: Eindeutige Rückmeldungen und unterstützende Ratschläge geben den élèves engagé(e)s die nötige Stütze, ihre Aufgaben souverän zu meistern. Zunehmend entwickelt sich bei ihnen ein Gefühl der Kontrolle und damit die Bereitschaft, in unbekannte Gebiete und Unterrichtsstoffe einzutauchen und die erlernten Methoden selbstbestimmt anzuwenden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die élèves engagé(e)s allmählich eigene Ideen für den Unterricht entwickeln und dadurch immer autonomer in ihrem Lernprozess werden.

Die Übernahme von Lehrfunktionen erhöht die Kontrollkompetenz und diese ist, wie Martin schreibt, eine zentrale Determinante für das Glück des Einzelnen und der Gruppe2 . Das Bedürfnis nach Kontrolle steuert das menschliche Handeln. Kontrolle vermittelt das Gefühl, Situationen selbstbestimmt zu meistern, und das Bedürfnis danach kann als Motor gesehen werden, die Kontrollfelder ausweiten zu wollen. Martin spricht von einem explorativen Verhalten, der Bereitschaft, sich in Situationen zu begeben, die viele unbekannte Faktoren enthalten. Exploratives Verhalten führt zu einer Art Flow-Effekt, der psychologisch als völliges Aufgehen in einer Aktivität gesehen werden kann und demnach als das höchste Maß an intrinsischer Motivation gilt. Lernsituationen, die Flow-Effekte auslösen, bewirken genau das, worauf es im Unterricht des 21. Jahrhunderts ankommen soll: Nämlich auf die Erarbeitung einer Reihe von Werkzeugen, die es den Schüler*innen erlauben, sich die Welt eigenständig zu erschließen.

 


1 Graef, R.; Preller, R.-D (1994): Lernen durch lehren. Rimbach: Verlag im Wald.
2 Martin, Jean-Pol: Lernen durch Lehren: Konzeptualisierung als Glücksquelle, in: Olaf-Axel Burow, Stefan Bornemann (Hrsg.): Das große Handbuch Unterricht & Erziehung in der Schule. Carl Link Verlag. Köln, S. 345-360.





Anne Molitor

Anne Molitor hat Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. studiert. Sie unterrichtet seit 2012 am Lycée Ermesinde in Mersch.

Autor*in(nen):

Anne Molitor (2019)

Titel:

Beteiligung von Lernenden an der Unterrichtsgestaltung am Lycée Ermesinde

Erschienen in Ausgabe:

03 / 2019 - Partizipation im Unterricht, S. 9-12.

Stichwörter:
Zitiervorschlag:
Anne Molitor (2019) : Beteiligung von Lernenden an der Unterrichtsgestaltung am Lycée Ermesinde, in: mateneen 03 / 2019 - Partizipation im Unterricht , S. 9-12. Online unter: https://doi.org/10.25353/ubtr-made-4984-89c7