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Schule als Staat: Demokratie erleben im Planspiel

Demokratietage oder Projektwochen bieten eine gute Gelegenheit, Makromethoden politischer Bildung zu erproben. Im simulativen Handeln können politische Prozesse aus der Akteursperspektive erlebt werden. Einen bemerkenswerten Ansatz eines derart praktischen Demokratie-Lernens bietet „Schule als Staat“.
Was ist „Schule als Staat“?

Bei diesem Planspiel rufen die Schüler*innen für eine Zeitspanne von ein bis fünf Tagen in eigener Regie einen möglichst wirklichkeitsgetreuen fiktiven Staat mit Institutionen, Behörden und Betrieben aus und verantworten dort selbstbestimmt Politik, Wirtschaft und gesellschaftliches Zusammenleben. Schon ein Jahr zuvor beginnen die Vorbereitungen, angestoßen durch ein Organisationsteam aus interessierten Schüler*innen und Lehrpersonen. Insgesamt gilt: Je ausführlicher die Planung, desto höher die Durchführungs- und Lernqualität der Simulation. Und die To-do-Liste ist lang: Politische Parteien gründen, eine demokratische Verfassung ausarbeiten, Wahlen vorbereiten und durchführen, ein gewähltes Parlament samt Staatspräsident*innen und Minister*innen implementieren, eigenständige Betriebe sowie Medien ins Leben rufen, ein Kultur- und Sportangebot organisieren, Zeit- und Finanzpläne sowie ein gerechtes Steuersystem und staatliche Unterstützungsangebote aufstellen. Darüber hinaus braucht der Staat einen Namen, eine fiktive Währung und noch viele Dinge mehr, um funktionsfähig zu sein. Lehrende und Schülerschaft sind gleichberechtigte Bürger*innen des auf diese Weise konstruierten Staatsgebildes. Das Schulgelände umfasst das Staatsgebiet und soll während der Projekttage von Gästen besucht werden. Die große Anteilnahme der Bevölkerung, die Zusammenarbeit mit externen Partnern sowie die Spende der vom Schulstaat erwirtschafteten Einnahmen an zivilgesellschaftliche Einrichtungen sind konstitutive Bausteine des Planspieles im Sinne eines Service Learning. Dieses verbindet gesellschaftliches Engagement von Schüler*innen mit fachlichem Lernen.

Was lernen die Jugendlichen bei „Schule als Staat“?

Das Großprojekt bietet den Schüler*innen sowohl bei seiner Planung als auch bei seiner Durchführung vielfältige Möglichkeiten, Demokratie unmittelbar zu erleben und selbstreflexiv daran teilzuhaben. Ob als Abgeordnete im Parlament, als Regierungs- und Parteimitglieder, Betriebsinhaber*innen, Angestellte oder Beamt*innen – alle sind aufgefordert sich einzubringen, jede/r in der Funktion, die er/sie sich aussucht. Legt man den Prozessen demokratischen Lernens und Handelns bei „Schule als Staat“ eine ganzheitliche Betrachtung von Demokratie auf den Ebenen Herrschaftsform, Gesellschaftsform und Lebensform zugrunde, wird besonders greifbar, in welcher Weise die Jugendlichen lernen können. Jede/r setzt sich mit dem demokratischen System auseinander, weil er/sie wählen und gewählt werden kann und somit zum Subjekt demokratischer Verfahren wird. Auf diese Weise vollzieht er/sie die Vorstellungen über Demokratie als politisches System aus eigener Erfahrung nach und erhält Einblicke in demokratische Prozesse. Das soziale Miteinander im Schulstaat verdeutlicht den Schüler*innen die Bedeutung der Gesellschaftsform einer Demokratie. Pluralismus (verschiedene Parteien, Betriebe, Lebensweisen), Spielregeln der sozialen Kooperation (Verfassung, Gericht), Offenheit und Öffentlichkeit der Kontroversen (Parlamentssitzungen, Bürgerversammlungen, freie Medien), Interessengegensätze in der Wirtschaft (Marktwirtschaft) sowie angemessene Formen des sozialen Ausgleichs (Steuersystem, soziale Hilfen) lassen sie die innere Qualität der demokratischen Herrschaftsform handelnd erleben und verstehend nachvollziehen. Und schließlich macht „Schule als Staat“ jedem/jeder Heranwachsenden subjektiv-individuell die Demokratie in seiner/ihrer Lebenswelt erfahrbar und unterstreicht, wie essenziell für diese das eigene (bürgerschaftliche) Engagement ist. Denn alle tragen in ihrem jeweiligen Bereich Verantwortung für das Funktionieren des Schulstaates und damit für den Projekterfolg. Dabei gerät auch die Bedeutung prodemokratischer Kompetenzen und Werthaltungen wie Planungs- und Entscheidungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit sowie Kompromiss- und Problemlösefähigkeit und damit die Demokratie als Lebensform in den Fokus.

„Schule als Staat“ – mehr als ein (Plan-)Spiel

Erziehung zur Demokratie ist eine äußerst anspruchsvolle wie herausfordernde Aufgabe, die mehrdimensionaler Zugänge bedarf. Das Großprojekt „Schule als Staat“ stellt für uns über den Fachunterricht hinaus durch die Unmittelbarkeit des auf Erfahrung gründenden Lernens und Handelns einen relevanten Zugang zur Demokratie und Politik dar, der für alle Schüler*innen erreichbar ist. Alle fünf bis sechs Jahre nutzen wir das in unserem Schulprogramm fest verankerte und in der Schülerschaft sehr geschätzte Modell als Trainings- und Erfahrungsfeld für demokratische Handlungskompetenz, so dass jede/r mindestens einmal in seiner/ihrer Schullaufbahn daran teilnehmen kann. Ein besonderer Effekt dieser demokratiepädagogischen Intervention ist ihre Anschlussfähigkeit. Der Fachunterricht kann die Jugendlichen bei der Deutung und Aufarbeitung ihrer eigenen (Projekt-) Erfahrungen unterstützen und in ihrem demokratischen Einsatz und ihrer gestalterischen Selbstwirksamkeit im Rahmen schulischer Aktivitäten würdigen und stärken. Auch die Schulentwicklung und die Schulkultur können von „Schule als Staat“ profitieren. Denn das Planspiel regt dazu an, partizipative Lernarrangements zu verstetigen sowie Elemente einer auf die schulische Alltagskultur bezogenen Mitbestimmung zu festigen und auszubauen.

Literaturauswahl
  • Himmelmann, Gerhard (2007): Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. 3. Auflage. Ein Lehr- und Studienbuch. Schwalbach/Ts.
  • Marker, Michael (2009): Die Schule als Staat. Demokratiekompetenz durch lernendes Handeln. Schwalbach/Ts.
  • Marker, Michael (2010): „Schule als Staat“. Ein Planspiel – und doch mehr als eine Simulation? In: kursiv. Journal für politische Bildung. 2/2010. Schwalbach/ Ts., S. 72 – 77.
  • Nähere Ausführungen zu „Schule als Staat“ finden sich auch hier: https://s.42l.fr/JUP9UOcC

 


CHECKLISTE
Schule als Staat

Ziel

Das Großprojekt „Schule als Staat“ in Theorie und Praxis kennenlernen und die Umsetzung in ein konkretes Vorhaben planen

Zielgruppe

Schüler*innen ab dem 5. Jahrgang, die gesamte Schulgemeinschaft (30 bis 600 Personen)

Dauer

Acht Stunden bis fünf Tage

Vorgehen
  • Istzustand des Demokratie-Lernens an der eigenen Schule klären
  • Möglichen Idealzustand entwerfen
  • Konzept und Organisation von „Schule als Staat“ kennenlernen
  • Durchführung des Planspieles recherchieren (Schulhomepages, Praxismaterialien)
  • Sich mit dem Lernpotenzial von „Schule als Staat“ auseinandersetzen
  • Realisierbare Umsetzungsmöglichkeiten sowie die Durchführung an der eigenen Schule planen
  • Nachbereitung/Auswertung der Lernprozesse in Reflexionsgruppen und im Fachunterricht sowie Rückschlüsse für die zukünftige Ausgestaltung des demokratischen Schullebens ziehen
Tipp

Ratsam ist es, interessierte Schülervertreter*innen zu beteiligen, die die Idee von „Schule als Staat“ mit in die Schülerschaft tragen.





Dr. Michael Marker

ist Fachlehrer für Gemeinschaftskunde, Geschichte und evangelische Religionslehre am Eduard-Mörike-Gymnasium Neuenstadt a. K. (Baden-Württemberg) und Autor der Studie „Die Schule als Staat. Demokratiekompetenz durch lernendes Handeln“

Autor*in(nen):

Dr. Michael Marker (2021)

Titel:

Schule als Staat: Demokratie erleben im Planspiel

Erschienen in Ausgabe:

6 / 2021 - Tag der Demokratie, S. 29-30.

Stichwörter:
Zitiervorschlag:
Michael Marker (2021) : Schule als Staat: Demokratie erleben im Planspiel, in: mateneen 6 / 2021 - Tag der Demokratie , S. 29-30. Online unter: https://doi.org/10.25353/ubtr-made-acc0-7d43