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Schulische Konflikte als demokratische Lernchance

Konflikte sind unvermeidlich. Sie treten auch in einer demokratischen Schulkultur auf. Die Etablierung einer konstruktiven Konfliktkultur bietet aber die Chance, Streitigkeiten als Lerngelegenheiten und zur persönlichen wie organisatorischen Weiterentwicklung zu nutzen.


Schüler*innen, Lehrpersonen, pädagogisches Personal und Schulleitungen bringen unterschiedliche Hintergründe, Persönlichkeiten, Werte und Meinungen mit in den Klassenraum. Sie verfolgen verschiedene Interessen, haben divergierende Bedürfnisse und sind strukturellen Zwängen unterworfen. Spannungen und Auseinandersetzungen lassen sich deshalb kaum vermeiden. Streitigkeiten zwischen Lernenden, Konflikte mit Lehrpersonen und Eltern, Kontroversen zwischen unterschiedlichen Gruppen und schulischen Gremien gehören zum Alltag. Aber auch intrapersonale Probleme und gesellschaftliche Einflüsse können das Zusammenleben der Schulgemeinschaft belasten. Sachund Beziehungskonflikte, Interessen-, Werte- oder Strukturkonflikte verweisen auf je unterschiedliche Ursachen und machen spezifische Interventionen und Bearbeitungsstrategien notwendig.1

Konflikte als Risiko und Chance

Konflikte können das Lernumfeld erheblich stören und das Wohlbefinden aller Beteiligten beeinträchtigen. Lernprozesse werden verhindert, persönliche Entwicklungen erschwert und Potenziale bleiben ungenutzt. Sie wirken sich aber auch auf die Organisation insgesamt aus, wenn Kommunikationsprobleme und Spannungen Innovationen verhindern, Schulentwicklungsprozesse ausgebremst werden oder eine breite Unzufriedenheit in Kollegium und Schülerschaft zu hoher Fluktuation und sinkenden Schülerzahlen führt. Konflikte stellen aber nicht nur eine Gefahr dar, sondern können erhebliche Chancen entfalten. Eine konstruktive Konfliktkultur ermöglicht es Lernenden, ihre Kommunikations- und Konfliktfähigkeit auszubilden. Sie vermittelt Strategien und unterstützt dabei, Auseinandersetzungen alters- und entwicklungsgerecht zu lösen. Sie bestärkt Schüler*innen, sich über eigene Bedürfnisse, Werte und Interessen klar zu werden und Verständnis und Toleranz für andere Positionen zu gewinnen. Darüber hinaus stellen Konflikte eine demokratische Lernchance dar. In einer konstruktiven Konfliktkultur erleben Schüler*innen Konflikte als normal.

Neben den eigenen Handlungskompetenzen, die auch grundlegende Voraussetzung für eine gesellschaftliche Teilhabe sind, lernen sie, Konflikte zu analysieren, und gewinnen am schulischen Beispiel Einsichten in demokratische Basiskonzepte wie Macht, Recht, Partizipation, Interessen, Öffentlichkeit oder Privatheit. So erleben sie in Kontroversen der schulischen Gremien die demokratische Gestaltung von Schule, die Rechte, Verantwortlichkeiten und Pflichten gesetzlich regelt und überprüfbar macht. Strukturelle Zwänge – auch von Lehrpersonen in ihrem Rollenhandeln – werden transparent. Nicht zuletzt gewinnt aber auch die Schule insgesamt in einer konstruktiven Konfliktkultur: Wenn Probleme nicht im Verborgenen gären, sondern offen angesprochen werden, wenn Beteiligungsmöglichkeiten und transparente Regeln der Konfliktbearbeitung bestehen, fördert das nicht nur das Wohlbefinden aller, sondern auch die schulische Qualitäts- und Organisationsentwicklung.

Damit eine konstruktive Konfliktkultur gelingt, bedarf es unterschiedlicher Maßnahmen, die die Konfliktbearbeitung präventiv und im akuten Streitfall steuern, Transparenz und klare Regelungen schaffen und die Beteiligten in ihren Handlungskompetenzen stärken.

Konfliktprävention im Schulalltag

Konfliktprävention zielt nicht darauf ab, jegliche Konflikte im Voraus zu verhindern. Vielmehr geht es darum, die Beteiligten proaktiv und altersgerecht in einer konstruktiven Konfliktbearbeitung zu stärken (vgl. die Beiträge von de Gruben und Garin/Reinsch). Präventive Maßnahmen umfassen die Förderung von Respekt, Toleranz und Konfliktlösungskompetenzen durch schulinterne Programme. Hierzu zählen zum Beispiel Kommunikationsoder Konflikttrainings, die den Schüler*innen grundlegende Kenntnisse über Konflikte, ihre Ursachen und Verläufe, aber auch konkrete Methoden und Strategien für ein deeskalierendes, faires Verhalten vermitteln (vgl. den Beitrag von Schulz).

Angebote für soziales Lernen fördern die soziale und emotionale Entwicklung der Schüler*innen und können systematisch und aufeinander aufbauend den Bildungsgang der Lernenden unterstützen. Schüler*innen lernen so frühzeitig, sich effektiv auszudrücken, eigene Bedürfnisse zu kommunizieren und die Interessen und Motive der anderen wahrzunehmen. Zusätzliche Beratungsangebote des sozialpädagogischen Dienstes, von Vertrauenslehrer* innen oder Schulpsycholog*innen schaffen ein unterstützendes Umfeld.

Konstruktive Konfliktbearbeitung durch Peer- & Cross-Age-Angebote

Ein wichtiges Instrument zur Förderung der Konfliktfähigkeit und konstruktiven Konfliktbearbeitung stellen Peer- und Cross-Age-Angebote dar: Im Klassenrat (vgl. mateneen 2: Der Klassenrat) lernen Schüler*innen ihre Probleme und Konflikte eigenständig zu lösen. Die Verfahrensstrukturen unterstützen sie dabei, Auseinandersetzungen aufzuarbeiten, wertschätzend zu kommunizieren und eigene Interessen und Bedürfnisse anzusprechen. In der Peer-Mediation werden Schüler*innen gezielt darin qualifiziert, zwischen Gleichaltrigen zu vermitteln und sie bei der Bearbeitung ihrer Streitigkeiten zu unterstützen. Hinter den akuten Sach- und Beziehungskonflikten stehen nicht selten andere Hintergrundprobleme wie verletzte Gefühle, Missverständnisse oder divergierende Werte, die die Auseinandersetzung prägen und Lösungen erschweren. Im Mediationsverfahren helfen die Schüler*innen ihren Mitschüler*innen, diese Ursachen zu erkennen, Verständnis für die Sichtweise der anderen Konfliktpartei zu gewinnen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, von denen beide Seiten profitieren. Das Verfahren „auf Augenhöhe“ wirkt sich nicht nur auf die ausgebildeten Peer-Mediator*innen positiv aus, sondern führt nicht selten zu besseren und stabileren Ergebnissen als die Intervention von Erwachsenen.

Ähnliche Effekte lassen sich auch in anderen Verfahren erkennen, die gezielt Schüler*innen Verantwortung für eine konstruktive Konfliktkultur übergeben und ihre spezifischen Potenziale nutzen. Hierzu zählen Patenschaften zwischen älteren und jüngeren Klassen oder „Pausen-Buddys“, die entstehende Konflikte auf dem Pausenhof identifizieren und deeskalierend intervenieren.

Transparente Regeln und Verantwortlichkeiten

Neben den verschiedenen Angeboten, die die Konfliktfähigkeiten und Handlungskompetenzen der Schüler*innen gezielt fördern, bedarf es aber auch transparenter Regeln und Verantwortlichkeiten. Durch Klassen- und Schulregeln sollten nicht nur gegenseitiger Respekt, Fairness und Gewaltlosigkeit eingefordert werden. Vielmehr müssen diese auch systematisch durchgesetzt und von Schüler*innen wie Lehrpersonen eingehalten werden. Hilfreich und lernproduktiv ist es, Schüler*innen an der Formulierung der Regeln mitwirken zu lassen, um deren Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu klären. Ebenso bedarf es bei akuten Konflikten transparenter Regelungen, die Ansprechpersonen und Interventionsverfahren aufzeigen. Ein „Kummerkasten“ kann es Lernenden ermöglichen, anonym auf beobachtete Probleme hinzuweisen. Vertrauenslehrer*innen müssen durch Aushang ihrer Kontaktdaten oder feste Sprechzeiten erreichbar sein. In Fällen von rassistischen Beleidigungen, Sexismus, Gewalt- oder Mobbingfällen benötigt eine Schulgemeinschaft zudem eindeutige Verfahrensregeln, die sofortige Intervention, Schutz von Betroffenen und Verantwortlichkeiten im Vorgehen gegen Täter*innen aufzeigen und allen Mitgliedern der Schulgemeinschaft bekannt sind. Unterstützungsorganisationen und Angebote externer Beratungsstellen, beispielsweise bei sexuellem Missbrauch, Suchtprävention oder Suizidgedanken, sollten Schüler*innen durch Aushänge in der Schule bekanntgemacht werden.

Demokratische Beteiligungsstrukturen

Eine verfasste Form, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten, stellen schließlich die schulischen Beteiligungsgremien dar. Klassensprecher*innen, Schülerrat oder -parlament, Deliberationsforen, Elternvertretung, Schul- und Gesamtkonferenzen bieten vielfältige, aufeinander abgestimmte Verfahrensstrukturen, um Probleme zu benennen, Interessen zu verhandeln und Lösungen verbindlich zu regeln (vgl. mateneen 5: Die Schülervertretung). Dies setzt voraus, dass den unterschiedlichen Gremien echte Mitsprache und Entscheidungskompetenzen in relevanten Fragen des Schullebens ermöglicht werden (vgl. mateneen 1: Demokratiepädagogische Schulentwicklung). Wenn alle Schulangehörigen darin bestärkt werden, ihre Interessen in die schulischen Beteiligungsverfahren einzubringen und ihnen Mittel und Wege aufgezeigt werden, diese auch durchzusetzen, fördert dies ein positives Schulklima und nachhaltige, gute Lösungen für alle.

Schulen als Reflexions- und Trainingsraum demokratischer Streitkultur

Konflikte entwickeln sich jedoch nicht nur innerhalb der Schule. Sie werden auch von außen in das Schulleben getragen. Gesellschaftliche Debatten und Spannungen, strukturelle Diskriminierung und politische Kontroversen machen nicht vor dem Schultor halt.2 Schule kann hier einerseits in Unterricht, Klassenrat und Projektwochen Gelegenheiten schaffen, um über diese Entwicklungen, die Schüler*innen beschäftigen, ihre Ängste und Interessen zu sprechen, und so ihre Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenzen zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten fördern. Andererseits gilt es, gegenüber demokratiefeindlichen Akteur*innen, Verschwörungserzählungen, Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, gegenüber Ideologien der Ungleichwertigkeit, Geschichtsrevisionismus oder Autoritarismus klare Grenzen zu setzen und Position zu beziehen (vgl. Dittgen/Drewes in diesem Heft). Eine konstruktive Konflikt- und Streitkultur setzt demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Emanzipation voraus und kann nicht „neutral“ erfolgen. Von Lehrpersonen verlangt dies eine situativ angemessene, aber stets grundrechtsklare Haltung und das Eintreten für demokratische Grundprinzipien und -werte.3

Eine konstruktive Konfliktkultur schafft auf diese Weise die Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Beteiligung und Teilhabe von Lernenden in Schule und Gesellschaft und zugleich jene Lerngelegenheit, die demokratische Streitkultur erleben und erlernen lässt.

 


1 Vgl. Besemer, Christoph 2001: Mediation. Vermittlung im Konflikt. Königsfeld.

2 Vgl. Rademacher, Helmolt 2021: Konfliktkultur in der Schule entwickeln. Wie Demokratiebildung gelingt. Stuttgart.

3 Vgl. Achenbach-Carret, Christine/Busch, Matthias/Keuler, Charlotte 2023: Handreichung für das übergreifende Thema Demokratiebildung. LISUM Berlin-Brandenburg. Ludwigsfelde, S. 6.





Prof. Dr. Matthias Busch

ist Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. Er lehrt und forscht u. a. zur Demokratiepädagogik, Europabildung und Geschichte der politischen Bildung.

Autor*in(nen):

Prof. Dr. Matthias Busch (2023)

Titel:

Schulische Konflikte als demokratische Lernchance

Erschienen in Ausgabe:

8 / 2023 - Konflikte bearbeiten, S. 5-8.

Stichwörter:
Zitiervorschlag:
Matthias Busch (2023) : Schulische Konflikte als demokratische Lernchance, in: mateneen 8 / 2023 - Konflikte bearbeiten , S. 5-8. Online unter: https://doi.org/10.25353/ubtr-made-3b62-4976